Donnerstag, 19. Mai 2016

Jetzt also doch - der Kulturschock

Mein erster Praktikumstag war seltsam, die nächsten Tage nicht weniger verwirrend und frustrierend. Ich musste oft an die Cultural Adjustment Curve denken, bei der auf die Honeymoon-Phase die Krise folgt: der erste Kulturschock wurde bei mir sanft abgefedert - ob nun durch das familiäre Umfeld, die vielen europäischen Kontakte oder weil Arequipa sehr westlich geprägt ist - doch nun befinde ich mich mitten im zweiten, tiefergehenden Schock. Ich bin müde, rege mich innerlich schnell über Land und Leute auf, bin deprimiert und schnell frustriert. Von außen betrachtet mag es sogar durchaus interessant sein, wie deutlich sich nun meine westliche oder auch deutsche Prägung meiner Arbeitseinstellung zeigt, und wie sehr mich deswegen Unpünktlichkeit, Disziplinlosigkeit, Unstrukturiertheit und Ineffizienz, aber auch ein Laissez-Faire-Führungsstil und Macho-Überzeugungen aufregen.

 

Zunächst ein paar Worte zur Organisation selbst: Colectivo Integral de Dessarollo, die mittlerweile eigentlich Perspektiva heißen, ist eine NGO in ganz Peru mit vielen Zweigstellen, die junge Leute auf ihrem Weg zum eigenen Unternehmen unterstützt und so zur Entwicklung Perus und Lateinamerikas beitragen will. Dazu bietet CID mit dem Programm "Haz Realidad Tu Negocio" (Setze dein Geschäft in die Tat um) fünftägige Workshops für Menschen mit innovativen Ideen an, in denen mit einer selbstentwickelten Methodik ein Businessplan entwickelt und so die Unternehmensidee ausgereift wird. Für die Gruppe der bereits Berufstätigen und Erfahrenen werden spezifische Fortbildungen zum Beispiel in Marketing oder Finanzierung angeboten. Das Angebot ist kostenlos, lediglich das Teilnahmezertifikat und das Manual zum Kurs kann für 10 Soles erworben werden. Finanziert wird das vor allem durch die Banco Interamericano de Dessarollo. Nach den Kursen wird eine weiterführende Beratung angeboten, während der der Businessplan fertig gestellt wird, und einmal im Jahr finden in verschiedenen Städten auch Wettbewerbe statt, in denen die besten Businesspläne mit 500$ ausgezeichnet werden. Die Unternehmen sind meist kleine Geschäfte oder landwirtschaftlich geprägte Unternehmen und allgemein sind die gegründeten Untenehmen erfolgreicher als andere. Bis dahin klingt das alles erstmal super - deswegen habe ich mich ja auch für ein Praktikum bei CID entschieden. Doch meine bisherigen Erfahrungen decken sich nicht so ganz mit diesen Fakten...

Zum Büro der Organisation kann ich entweder 25 Minuten eine Hauptstraße laufen oder für 70 Centissimo einen Combi entlang der parallelen Hauptstraße nehmen. Im Keller eines Hauses befindet sich das Büro - fünf Schreibtische in drei kleinen, durch Glastüren getrennten Räumen.



Um 9 Uhr kam ich am Montag im Büro an, der peruweite Praktikumskoordinator hatte mir geschrieben, dass meine Kontaktperson der Geschäftsführer der Zweigstelle sein würde. Bisher saß einem der Schreibtische jedoch nur Edison, der mich begrüßte - mit Küsschen auf die Wange, wie hier üblich - und mich bat, auf einem der Sofas Platz zu nehmen. 15 Minuten später kam Eduardo an, der sich mit mir unterhielt, bis gegen 10 Uhr dann eine dritte Kollegin, Nanci, ankam, während Edison mittlerweile wieder verschwunden war. Eduardo rief nun mal bei Edilberto, dem Geschäftsführer an, um zu fragen, wann er kommen würde, die neue Praktikantin sei mittlerweile da - gegen halb 11. Eduardo deutete an, dass dies normal sei - intern gäbe es derzeit Probleme, da alle kämen und gingen, wann sie wollten, und von Edilberto wüsse das Team die meiste Zeit nicht, wo er sei, da er nicht mit ihnen redete. Unschlüssig sahen sich Eduardo und Nanci an, Eduardo müsse nämlich nun auch wieder los, und meinten, es sei voll sinnvoller, wenn ich nachmittags wieder käme. Also lief ich ab halb 11 etwas ziellos durch ein riesiges Einkaufszentrum und wieder zurück zu meinem Hotel und nutzte die Zeit, um im Greenpoint essen zu gehen - ein vegetarisches Restaurant, das mir von ausnahmslos jedem, der in Cusco gewesen war, empfohlen worden war. Tatsächlich war es von anderen Reisenden überfüllt, und da das Mittagsmenü, das nur 15 Soles kostet, aus einem Salat von der Salattheke, einer Gemüsesuppe, einem Hauptgang (Quinoarisotto mit Spinatpanzotti) und Nachtisch (Kartoffeltrüffel) besteht, verständlich.









Gegen 15.30 war ich wieder zurück im Büro, mittlerweile war auch Mauricio da, der vierte Kollege, und Edilberto, der mich flüchtig begrüßte und sonst kein weiteres Wort mir gegenüber verlor. Erst gab mir Eduardo allen Ernstes seinen Laptop, damit ich damit im Internet surfen konnte, doch zum Glück fand sich kurz danach eine Aufgabe für mich: die sich seit geraumer Zeit ansammelnden Teilnehmerfragebögen in eine Excelliste übertragen. Dadurch fiel auf einmal auf, dass ich gar keinen Laptop hatte - ich darf nun Mauricios verwenden, der seinen privaten nutzt, und da meist mindestens ein Teammitglied nicht anwesend ist, gibt es auch kein Schreibtischproblem. Um 17 Uhr war ich dann bei einem Workshop dabei, der eine Stunde überzogen wurde, und war um 20 Uhr schließlich fertig - mit der Arbeit und den Nerven. Selbst im Kurs gab es viele Zuspätkommer, am Ende saßen 18 Teilnehmer im Raum. Eduardo machte seine Sache an sich sehr gut, zu meinem Leiden machte er immer und immer wieder auf die vermeintlichen Unterschiede zwischen Frauen und Männern aufmerksam, die man unbedingt beachten sollte, wenn man ein Unternehmen aufmacht und dafür wirbt. Überzeugt brachte er ein, dass Frauen mehr reden und emotionaler sind, und natürlich durften auch Beispiele für sexistische Werbung nicht fehlen - Babys, um die Aufmerksamkeit von Frauen zu gewinnen und halbnackte Frauen, um die Aufmerksamkeit von Männern zu gewinnen, natürlich nicht ohne visuelle Beispiele auf dem Overheadprojektor. Er schien zu merken, dass ich am Ende nicht ganz überzeugt war, und vorsichtig formulierte ich, dass ich nicht ganz seiner Meinung gewesen sei, aber glücklicherweise wurden wir von einer Kursteilnehmerin unterbrochen und vertieften das Thema nicht weiter.

Am Dienstag war ich um kurz nach 9 Uhr im Büro und saß vor verschlossenen Türen. Um kurz nach halb 10 kam Eduardo, in der folgenden Stunde trudelten dann auch die anderen Kollegen ein - bis auf Edilberto, der war den ganzen Tag nicht anwesend. Ich übertrug ein paar weitere Fragebögen, dann fuhren Eduardo, Mauricio und ich in ein altes Kolonialgebäude, das heute als Militärstation dient, und die beiden versuchten, ihr Programm zu bewerben - oft ist der freiwillige Militärdienst eine Option für Schulabgänger, die kein Geld für die Universitäten haben oder keine Idee, in welche Richtung sie sich ausbilden wollen, und CID will Perspektiven für die Zeit nach dem Militär schaffen. Danach liefen wir zu einer Non-Proft Organisation, Cedna, mit der eine mögliche Kooperation besprochen wurde. Cedna bietet mehrmonatige Ausbildungskurse zur Verbesserung der sozioökonomischen Situation der ärmeren Bevölkerung Cuscos.
Mittags liefen wir in Richtung Altstadt zurück und meine dreistündige Mittagspause begann. Normalerweise sind die Arbeitszeiten 9-13 und 15-19 Uhr, doch per se kann man getrost noch ein wenig Zeit davon abziehen. Ich fand ein kleines alternatives Restaurant, Prasada, in dem psychedelische Festivals beworben werden und Reggae gespielt wird, und in dem es superleckere Burger und Säfte, zum Beispiel Mango-Maracuja-Ingwer, aus riesigen Gläsern gibt.



Nachmittags begleitete ich diesmal Edison und Mauricio zu ihrem Kurs, in der Hoffnung, dass dieser weniger Rollenklischees als Beispiele heranzog. Edisons Rolle blieb mir unklar, da er eigentlich die meiste Zeit draußen war, und Mauricio nutzte das Thema Marketing, um den zehn anwesenden Kursteilnehmern völlig überzeugt Halbwahrheiten und stereotype Annahmen aufzutischen: Männer lieben schnelle Autos, Frauen lieben Schuhe, Frauen brauchen länger zum Einkaufen und machen mehr Fotos von sich selbst, Frauen sind emotionaler und das lässt sich auch durch die verschiedenen Gehirne von Männen und Frauen erklären, und da Frauen mehr Zuhause sind, können sie besser Wohnungen auswählen. Alter Schwede, das war eine echte Härteprobe an meine Selbstbeherrschung.

Am dritten Tag hatte ich alle krakeligen Fragebögen übertragen, die voller Rechtschreibfehler und inhaltlicher Inkonsistenzen waren (Haben Sie finanzielle Ressourcen? Nein. Wenn ja, worin bestehen diese? Ersparnisse und Kredite.) und hatte die fehlerhaften Einträge meiner Kollegen ausgebessert. Bis dahin verstand ich die Organiation immer noch nicht ganz - und das lag auch, aber nicht nur an der Sprache. Ein Gespräch mit zwei Kollegen, das wir führten, als wir zu einem nahegelegenen Park spazierten, unter dem Vorwand, zu einer anderen Organisation zu fahren, ließ mich das Problem der Organisation zwar besser verstehen, mich aber auch hoffnungsloser werden. Nicht nur ich war mit den Führungsqualitäten unseres Chefs unglücklich, sondern auch die beiden. Sie hatten ebenso viel Einführung in die Themen wie ich bekommen, nämlich keine, und seither gab es weder klare Aufgabengebiete noch Zielvereinbarungen, regelmäßige Teamabstimmungen oder Feedbackgespräche - alles Komponenten, die ich in meinen bisherigen Praktika als selbstverständlich erlebt habe. Entsprechend machen sie das, was sie für richtig halten - das Ergebnis sieht man in den Workshopinhalten. Erleichtert hat mich, dass sie aber wenigstens selbst wahrnehmen, dass sie prokrastinieren - Musik hören, reden, Videos gucken, Facebook durchsehen oder spazieren gehen - und sich ihrer Unlust und fehlenden Motivation bewusst sind. Leider werden Gespräche und Vorschläge in Richtung oben abgeschmettert, ein kleiner Teufelskreis, und das Resultat: beide werden wahrscheinlich auch nicht mehr lange bleiben, da sie den gesamten Impact der Organisation mittlerweile anzweifeln. Uff.
Während eines Mittagessens an einem vegetarischen Stand und einem der superleckeren Säfte im Markt San Blas, der deutlich kleiner ist als der große San Pedro Markt, dachte ich nach, wie ich nun vorgehen sollte.






Weil die beiden mir empfohlen hatten, mir selbst eine Aufgabe zu überlegen und  eine Mitarbeiterbefragung vorgeschlagen hatten, beschäftige ich mich ein wenig mit der Idee als eine Möglichkeit, eine Veränderung zu erzielen, und fragte den Geschäftsführer per Mail - denn er war natürlich nicht im Büro - was er davon hielte. Überraschenderweise rief er mich umgehend an, und nachmittags setzten wir uns zusammen und er fragte, in welchem der Bereiche, die ich kennen gelernt habe, ich mitarbeiten will - Scherzkeks, ich kannte ja bisher nur die Kurse. Schließlich schlug er vor, dass ich die Durchführung und Auswertung der Persönlichkeitstests sowie die persönliche Beratung im Rahmen der weiterführenden Beratung nach den Kursen übernehmen könnte. Das klingt erstmal nicht schlecht, ab nächster Woche wird sich zeigen, wie das in der Praxis läuft.

Heute hat mich Edilberto mit zu einer Sensibilisierung in Sicuani genommen, eine Art Werbeveranstaltung für das Programm und erste Annäherung an die Möglichkeiten und Risiken bei der Geschäftsgründung. Insofern bin ich froh, das Gespräch mit ihm gesucht zu haben, vielleicht hat er auch auf ein wenig Eigeninitiative gewartet. Wir gingen davor sogar gemeinsam in einem vegetarischen Restaurant um die Ecke Mittag essen - für 7 Soles ein komplettes Menü aus Salat vom Buffett, Suppe, Hauptgang und Sojamilch oder Tee , Edilberto ist allerdings nicht der gesprächigste Zeitgenosse und tippt und telefoniert ständig auf seinem Smartphone herum - selbst wenn er isst oder Präsentationen hält. Mit zwei Mitarbeitern des Bildungsmimisteriums fuhren wir zweieinhalb Stunden nach Sicuani - dank rasanten Fahrstils des Fahrers, einer der beiden anderen, über die schlechten Straßen und vielen Bremsschwellen eine sehr rumpelige Angelegenheit. In Sicuani fand ich etwas, was einem Kaffee glich, und spazierte kurz über den Plaza, und gegen 16 Uhr begann der Workshop.





Leider waren nur etwa 25 Leute erschienen, obwohl das Arbeitsministerium das Event mitgetragen hatte, aber die Teilnehmenden schienen von Edilbertos Einführung in das Programm von CID angetan. Und ich verstand nun auch besser die Idee hinter der NGO (endlich, nach vier langen Tagen): in Peru ist die Quote der Unternehmensgründer, wie für weniger entwickelte Länder typisch, extrem hoch, der informelle Sektor ist darüber hinaus riesig. Die meisten Unternehmen sind sogenannte Mypes, also Mikrounternehmen. Allerdings gehen innerhalb der ersten Jahre die meisten Geschäfte wieder pleite. Und dort setzt CID an und versucht mit seinen Kursen, den typischen Fehlern bei der Geschäftsgründung vorzubeugen und die fehlende staatliche Unterstützung auszugleichen.




Ansonsten muss ich gestehen, dass ich bisher noch nicht dahinter gekommen bin, warum so viele Menschen Cusco viel besser als Arequipa finden und ins Schwärmen über diese Stadt geraten. Der Staub und die Abgase sind hier ebenso bei jedem Atemzug spürbar, der Verkehr ist massiv und laut (neben dem Hupen ist das Piepen der Autos beim Rückwärtseinparken wirklich unnormal laut), die Autos nehmen auch an grünen Ampeln und Zebrastreifen keine Rücksicht und fahren einem bis knapp vor die Füße, im Müll auf den abseits der Touristenpfade gelegenen Straßen wühlen viele streunende Hunde. Alles nicht anders als in anderen peruanischen Städten, die ich bisher kennen gelernt habe.
Noch dazu ist das Wetter schlechter - tagsüber ist die Sonne noch aggressiver und verbrennt mir schnell die nicht eingecremten Hautstellen, aber sobald sie untergegangen ist, fallen die Temperaturen im Verlauf der Nacht um bis zu 20 Grad nach unten. Ohne Heizung, die es ja nirgendwo gibt, wird das schnell unangenehm kalt. Und auch in Gebäuden, die die Sonne nicht aufzuheizen vermag, wie unser Büro im Keller, tragen die Leute immer ihre Jacken und bringen beispielsweise für die Kurse ihre eigenen Decken mit.
Und natürlich ist es hier nicht so einfach wie in der Sprachschule, Leute kennen zu lernen. Mein einziger Freund ist zur Zeit Julio der Hostelbesitzer, mit dem ich morgens und abends ein paar Sätze austausche. Das Hostel ist im Übrigen in Ordnung, bis auf das schrille Klingeln der Tür, das wegen der ankommenden Nachtbusse oder heimkehrenden Nachteulen jeden Morgen ab 6 Uhr beginnt.

Aber um nicht so negativ zu schließen: ich bin optimistisch, dass das alles nicht so bleiben wird. Wenn sich die Schatten der Wolken auf den Bergen bilden, ein Schamane auf einem Markt einer Menschengruppe ein Ritual zeigt, die Lichter der Stadt sich nachts die Berge hinaufziehen oder ich am trubeligen Plaza de Armas vorbeilaufe, weiß ich auch wieder, dass Cusco sehr schön sein kann.





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