Da ich am Mittwochvormittag die Stoffaufbereitung für mein letztes Final Exam am Freitag zu meiner Zufriedenheit abgeschlossen hatte, stand mir der Donnerstag zur Verfügung, um einen länger geplanten Trip mit Bianca umzusetzen. Wir trafen uns morgens an der Downtown BART-Station und fuhren statt bis nach San Francisco nur bis nach Oakland, liefen dort bis zum Fährenhafen und setzten mit einer Fähre nach San Francisco über. Der Himmel war grau und diesig, die Skyline der Stadt erhob sich fast etwas mystisch aus den tiefen Wolken heraus.
Statt an den Embarcaderos stiegen wir erst am Fisherman’s Wharf aus und suchten eine Fahrradvermietung auf, bei der Bianca sich ein Fahrrad für den Tag ausleihen konnte; ich hatte meines aus Berkeley mitgenommen.
Und dann konnte es losgehen: an der Promenade entlang fuhren wir in Richtung der Golden Gate Bridge, mit vielen Zwischenstopps, bei denen sich uns malerische Ausblicke auf Bay und Brücke boten. Kaum saßen wir im Sattel, klärte der Himmel sich auf und die Sonne strahlte mit für die letzten Tage ungewohnter Kraft durch die sich verziehenden Wolken hindurch. Es war eine wunderschöne Radtour, und Bianca und ich verstanden uns blendend und redeten über Gott und die Welt. Einmal mehr war der Austausch über unsere Heimatländer – Deutschland und China – für beide von uns bereichernd und anregend.
Schließlich hatten wir die Golden Gate Bridge erreicht und überquerten sie, allerdings zu Fuß, denn auf der einen für Nicht-Autofahrer zugänglichen Seite drängten sich Fußgänger, Läufer und Radfahrer. Auf der anderen Seite angekommen genossen wir den uns beiden schon bekannten Blick auf die Bridge, entschieden uns aber zum Glück noch, die Hügel ein wenig hinaufzufahren.
Dort bot sich eine uns neue Perspektive auf die Golden Gate Bridge, die ich noch nicht gekannt hatte, und insbesondere durch das Zusammenspiel mit dem Licht der Sonne empfand ich diese Sicht als die schönste. Etwas tiefer gelegen befindet sich eine ehemalige Militäranlage, auch von dort aus besichtigten wir die Brücke nochmals und befanden auch diesen Blickwinkel als viel schöner als jene von der Stadt aus und direkt hinter der Brücke.
Nach einem Imbiss in der Westküsten-Kette In’N’Out fuhren wir wieder nach Berkeley. Dort kam ich perfekt in der Zeit an, um mich im People’s Café mit Jasmijn zu treffen. Einige Zeit zuvor hatte ich Anfragen in diversen Facebookgruppen gestartet, um andere Reisewillige zu finden, die Anfang Januar mit mir die Westküste erkunden würden. Gefunden hatte ich Jasmijn, die parallel das gleiche versucht hatte. Zusammen mobilisierten wir ein Dutzend Interessenten in ganz Kalifornien, und versuchten, einen gemeinsamen Plan zu erstellen. Da dies über das soziale Netzwerk als Kommunikationsmedium eher weniger gut funktioniert hatte, entschieden wir, dass ein Erstkontakt von Angesicht zu Angesicht hilfreich sei, und verabredeten uns mit Kaichi, einem weiteren Interesstenten, für jenen Abend, um Eckpunkte für unsere bevorstehende Reise festzulegen. Obwohl wir uns nie zuvor gesehen hatten und uns im Grunde völlig fremd waren, verstanden Jasmijn und ich uns auf Anhieb. Wir waren in der exakt gleichen Situation: beide hatten wir ein Auslandssemester in Berkeley hinter uns, und nachdem uns unsere Familien über Weihnachten besuchen und wir mit ihnen ebenfalls reisen würden, blieb noch etwas Zeit im Januar, in der wir noch mehr entdecken wollten. Dabei wollten wir beide so viel wie möglich sehen, und deswegen ein Auto mieten, abgesehen davon war uns wichtig, dass ein paar Stationen des Trips klar waren, der Zeitplan aber an sich spontan und flexibel blieb. Wir hatten ein paar Städte im Kopf, die wir gern sehen würden, und wollten aber auch Nationalparks und die Natur nicht zu kurz kommen lassen. Bezüglich der Schlafmöglichkeiten waren wir entspannt – sollten wir keine Couchsurfer oder Freunde finden, würden wir eben ein Motel buchen oder im Auto schlafen. Wichtig war uns vor allem, dass wir mit Einwohnern in Kontakt kamen und Spaß haben würden. Nachdem wir noch einige weitere Gemeinsamkeiten entdeckt hatten, stellten wir aufgrund der Begegnung mit Kaichi auch schnell fest, dass wir ähnliche Eindrücke von Menschen hatten und den gleichen Sinn für Humor. Kaichi hatte sich nämlich zunächst etwas zu essen geholt, setzte sich zu uns, ließ mit einer kauzigen Art heraushängen, dass er viel älter als wir sei und deshalb beispielsweise zu alt, um feiern zu gehen, und erklärte klipp und klar, er hätte Lust, Ski zu fahren. Jasmijn und ich antworteten, dass wir auf so ziemlich alles Lust hätten – nur nicht Ski fahren. Das Gespräch war somit nach fünf Minuten beendet und es war klar, dass wir nicht zusammen fahren würden. Leider hatte Kaichi noch eine gesamte Mahlzeit vor sich stehen, und so waren wir gezwungen, noch weiter beisammen zu sitzen, was sehr seltsam, aber im Nachhinein auch sehr lustig war. Beschwingt und überrascht, wie gut wir beide zusammenpassten, gingen wir auseinander und freuten uns nun beide riesig auf den 2. Januar, der zuvor ins uns beiden wegen der Unsicherheit, was dann passieren würde, etwas Unruhe ausgelöst hatte, nun aber für Vorfreude und Aufgeregtheit sorgte.
Schließlich kam er unausweichbar: der letzte Freitag, an dem ich zum Campus
fahren würde. Der Tag war hektisch gewesen, ich hatte morgens noch aufgeräumt
und geputzt, mich schnell nochmal vor meine Notizen gesetzt, und war durch den
Regen bedingt gezwungen, mit dem Bus zu meiner letzten Klausur zu fahren. Da
eines meiner Lieblingsthemen für den zu schreibenden Essay ausgewählt wurde, war
es eine entspannte Klausur – im Gegensatz zu der vorherigen am Dienstag, bei der
ich aufgrund meines mittlerweile völlig außer Rand und Band geratenen
Schlafrhythmus dauernd eingenickt und deswegen überzeugt gewesen war, eine meiner
schlechtesten Leistungen in einer Prüfung abgeliefert zu haben.
Mein Gefühl nach dem Exam am
Freitag war ein komisches, undurchdringlich und unwirklich. Immer noch regnete
es in Strömen, der Himmel hing grau über Berkeley, und dies verstärkte meine
Stimmung. Ich nahm mir nicht viel Zeit, um Abschied zu nehmen, auch im
Bewusstsein, dass ich durchaus noch ein paar Mal auf dem Campus sein würde,
bevor es nach Deutschland zurückginge, nur eben nicht mehr in Kursen. Ich ging
ein letztes Mal ins Fitnessstudio und versuchte, dem „letzten Tag“ nicht zu viel
Bedeutung beizumessen. Sehr hilfreich war dabei, dass ich zunehmend
aufgekratzter und hibbeliger wurde, je näher der Abend rückte. Und schließlich
war es dann endlich soweit, und ich machte mich auf den Weg zum Flughafen…