Sonntag, 19. April 2015

15.-19. Dezember – Die letzte Woche an der Uni

Kaum war ich wieder in Berkeley angekommen, wurde mir schlagartig bewusst, dass mein Auslandssemester sich rasant dem Ende zuneigte, zumindest die Zeit an der Universität. Obwohl mir das natürlich faktisch bewusst gewesen war, löste die nun angebrochene „letzte Woche“ ein Gefühl akuten Unwohlseins in mir aus, eine bedrückende Mischung aus Traurigkeit, Wehmütigkeit und einer seltsamen Rastlosigkeit. Ich hatte plötzlich das Gefühl, so viel noch nicht gesehen und erlebt zu haben - obwohl ich versucht hatte, jeden Tag voll auszunutzen. Das Wetter spiegelte meine mir selbst etwas schwer zu erklärende Frustration und Ruhelosigkeit wieder, es regnete ununterbrochen und in Strömen. Nur noch fünf weitere Tage blieben mir, um noch ein paar Dinge auf meiner Want-To-Do-Liste abhaken zu können, und die nutzte ich aus: ich besuchte die Bibliothek der Juristen, die mir als die schönste beschrieben worden war, um mich dort auf mein Final Exam am Dienstag vorzubereiten. Da dieses Vorhaben scheiterte, fand ich mich schließlich doch in der wohl  hässlichsten Bibliothek auf dem Campus wieder, der Moffitt Undergraduate Library. Ich sah einige Freunde zum letzten Mal: am Dienstag besuchte ich Abimbola im Haus seiner Gastfamilie, nach unserem gemeinsamen Fitness-Kurs nahm mich Rebecca mit zum Abendessen in ihre Sorrority, die sie mir schon lange hatte zeigen wollen (die Bewohner des wunderschönen alten Hauses oben auf den Hügeln in der Nähe des Stadions werden jeden Abend von einem eigens für das Haus zuständigen Koch mit einem leckeren Büffet versorgt, und jede Woche darf man einen Gast mitbringen, wenn man möchte), abends ging ich mit Riad ins Kino. Am Mittwoch tranken Kristina und ich einen letzten Kaffee in einem unserer Lieblingscafés schräg gegenüber des Campus, anschließend gingen Andy und ich in ein indonesisches Restaurant, das mir auch schon vor längerer Zeit empfohlen worden war, und ich nahm ihn mit zum Contradance, bei dem ich ebenfalls ein letztes Mal die besondere und ausgelassene Stimmung aller Anwesenden genoss und mich innerlich von der Contradance-Community verabschiedete.

Da ich am Mittwochvormittag die Stoffaufbereitung für mein letztes Final Exam am Freitag zu meiner Zufriedenheit abgeschlossen hatte, stand mir der Donnerstag zur Verfügung, um einen länger geplanten Trip mit Bianca umzusetzen. Wir trafen uns morgens an der Downtown BART-Station und fuhren statt bis nach San Francisco nur bis nach Oakland, liefen dort bis zum Fährenhafen und setzten mit einer Fähre nach San Francisco über. Der Himmel war grau und diesig, die Skyline der Stadt erhob sich fast etwas mystisch aus den tiefen Wolken heraus.
Statt an den Embarcaderos stiegen wir erst am Fisherman’s Wharf aus und suchten eine Fahrradvermietung auf, bei der Bianca sich ein Fahrrad für den Tag ausleihen konnte; ich hatte meines aus Berkeley mitgenommen.
Und dann konnte es losgehen: an der Promenade entlang fuhren wir in Richtung der Golden Gate Bridge, mit vielen Zwischenstopps, bei denen sich uns malerische Ausblicke auf Bay und Brücke boten. Kaum saßen wir im Sattel, klärte der Himmel sich auf und die Sonne strahlte mit für die letzten Tage ungewohnter Kraft durch die sich verziehenden Wolken hindurch. Es war eine wunderschöne Radtour, und Bianca und ich verstanden uns blendend und redeten über Gott und die Welt. Einmal mehr war der Austausch über unsere Heimatländer – Deutschland und China – für beide von uns bereichernd und anregend. 


Schließlich hatten wir die Golden Gate Bridge erreicht und überquerten sie, allerdings zu Fuß, denn auf der einen für Nicht-Autofahrer zugänglichen Seite drängten sich Fußgänger, Läufer und Radfahrer. Auf der anderen Seite angekommen genossen wir den uns beiden schon bekannten Blick auf die Bridge, entschieden uns aber zum Glück noch, die Hügel ein wenig hinaufzufahren.

 
Dort bot sich eine uns neue Perspektive auf die Golden Gate Bridge, die ich noch nicht gekannt hatte, und insbesondere durch das Zusammenspiel mit dem Licht der Sonne empfand ich diese Sicht als die schönste. Etwas tiefer gelegen befindet sich eine ehemalige Militäranlage, auch von dort aus besichtigten wir die Brücke nochmals und befanden auch diesen Blickwinkel als viel schöner als jene von der Stadt aus und direkt hinter der Brücke.

 









Nach einem Imbiss in der Westküsten-Kette In’N’Out fuhren wir wieder nach Berkeley. Dort kam ich perfekt in der Zeit an, um mich im People’s Café mit Jasmijn zu treffen. Einige Zeit zuvor hatte ich Anfragen in diversen Facebookgruppen gestartet, um andere Reisewillige zu finden, die Anfang Januar mit mir die Westküste erkunden würden. Gefunden hatte ich Jasmijn, die parallel das gleiche versucht hatte. Zusammen mobilisierten wir ein Dutzend Interessenten in ganz Kalifornien, und versuchten, einen gemeinsamen Plan zu erstellen. Da dies über das soziale Netzwerk als Kommunikationsmedium eher weniger gut funktioniert hatte, entschieden wir, dass ein Erstkontakt von Angesicht zu Angesicht hilfreich sei, und verabredeten uns mit Kaichi, einem weiteren Interesstenten, für jenen Abend, um Eckpunkte für unsere bevorstehende Reise festzulegen. Obwohl wir uns nie zuvor gesehen hatten und uns im Grunde völlig fremd waren, verstanden Jasmijn und ich uns auf Anhieb. Wir waren in der exakt gleichen Situation: beide hatten wir ein Auslandssemester in Berkeley hinter uns, und nachdem uns unsere Familien über Weihnachten besuchen und wir mit ihnen ebenfalls reisen würden, blieb noch etwas Zeit im Januar, in der wir noch mehr entdecken wollten. Dabei wollten wir beide so viel wie möglich sehen, und deswegen ein Auto mieten, abgesehen davon war uns wichtig, dass ein paar Stationen des Trips klar waren, der Zeitplan aber an sich spontan und flexibel blieb. Wir hatten ein paar Städte im Kopf, die wir gern sehen würden, und wollten aber auch Nationalparks und die Natur nicht zu kurz kommen lassen. Bezüglich der Schlafmöglichkeiten waren wir entspannt – sollten wir keine Couchsurfer oder Freunde finden, würden wir eben ein Motel buchen oder im Auto schlafen. Wichtig war uns vor allem, dass wir mit Einwohnern in Kontakt kamen und Spaß haben würden. Nachdem wir noch einige weitere Gemeinsamkeiten entdeckt hatten, stellten wir aufgrund der Begegnung mit Kaichi auch schnell fest, dass wir ähnliche Eindrücke von Menschen hatten und den gleichen Sinn für Humor. Kaichi hatte sich nämlich zunächst etwas zu essen geholt, setzte sich zu uns, ließ mit einer kauzigen Art heraushängen, dass er viel älter als wir sei und deshalb beispielsweise zu alt, um feiern zu gehen, und erklärte klipp und klar, er hätte Lust, Ski zu fahren. Jasmijn und ich antworteten, dass wir auf so ziemlich alles Lust hätten – nur nicht Ski fahren. Das Gespräch war somit nach fünf Minuten beendet und es war klar, dass wir nicht zusammen fahren würden. Leider hatte Kaichi noch eine gesamte Mahlzeit vor sich stehen, und so waren wir gezwungen, noch weiter beisammen zu sitzen, was sehr seltsam, aber im Nachhinein auch sehr lustig war. Beschwingt und überrascht, wie gut wir beide zusammenpassten, gingen wir auseinander und freuten uns nun beide riesig auf den 2. Januar, der zuvor ins uns beiden wegen der Unsicherheit, was dann passieren würde, etwas Unruhe ausgelöst hatte, nun aber für Vorfreude und Aufgeregtheit sorgte.
Schließlich kam er unausweichbar: der letzte Freitag, an dem ich zum Campus fahren würde. Der Tag war hektisch gewesen, ich hatte morgens noch aufgeräumt und geputzt, mich schnell nochmal vor meine Notizen gesetzt, und war durch den Regen bedingt gezwungen, mit dem Bus zu meiner letzten Klausur zu fahren. Da eines meiner Lieblingsthemen für den zu schreibenden Essay ausgewählt wurde, war es eine entspannte Klausur – im Gegensatz zu der vorherigen am Dienstag, bei der ich aufgrund meines mittlerweile völlig außer Rand und Band geratenen Schlafrhythmus dauernd eingenickt und deswegen überzeugt gewesen war, eine meiner schlechtesten Leistungen in einer Prüfung abgeliefert zu haben.
Mein Gefühl nach dem Exam am Freitag war ein komisches, undurchdringlich und unwirklich. Immer noch regnete es in Strömen, der Himmel hing grau über Berkeley, und dies verstärkte meine Stimmung. Ich nahm mir nicht viel Zeit, um Abschied zu nehmen, auch im Bewusstsein, dass ich durchaus noch ein paar Mal auf dem Campus sein würde, bevor es nach Deutschland zurückginge, nur eben nicht mehr in Kursen. Ich ging ein letztes Mal ins Fitnessstudio und versuchte, dem „letzten Tag“ nicht zu viel Bedeutung beizumessen. Sehr hilfreich war dabei, dass ich zunehmend aufgekratzter und hibbeliger wurde, je näher der Abend rückte. Und schließlich war es dann endlich soweit, und ich machte mich auf den Weg zum Flughafen…